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Harmony: The Fall of Reverie (2D-Adventure) – Der nächste Story-Hit der Life is Strange-Macher?

„Diese Entscheidung hat Auswirkung“ oder „Clementine wird sich das merken“: Seit Telltale Games‘ The Walking Dead hat es zahlreiche Spiele gegeben, die eine Entscheidungsfreiheit des Spielers als wichtigstes Gut in den Mittelpunkt stellten. Frei ist jedoch immer relativ, denn am Ende müssen die Fäden zusammenlaufen und man wird nie die narrativen Grenzen sprengen können, die vom Entwickler selbst gesetzt werden. Das weiß Don’t Nod, das Studio hinter Life is Strange und Tell me Why, sehr genau, weshalb man sich in Harmony: The Fall of Reverie eine andere Herangehensweise traut: Warum nicht von Beginn an die Möglichkeiten einer entscheidungsbasierten Geschichte offenlegen? Wieso etwas verschleiern, wenn man hinter diesen Vorhang irgendwann sowieso schaut? Wir haben uns für euch durch die ungewöhnliche Visual Novel geklickt und verraten im Test, ob Harmony: The Fall of Reverie ein Geheimtipp ist, oder ob es manchmal besser ist, Dinge geheim zu halten.

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Knoten-Knabberei

Während manche Knotenpunkte, meistens nur zu Beginn eines Kapitels, frei auswählbar sind, benötigt man später oft eine bestimmte Anzahl von Kristallen der jeweiligen Bestrebungen. Die erhält man ebenfalls durch das Spielen von bestimmten Knotenpunkten, wodurch man schon nicht mehr ganz so frei in seiner Entscheidung wird. Denn will ich eine bestimmte Route in der Mantik einschlagen, muss ich mir vorher den einzelnen Weg ganz genau anschauen, um zu sehen, wie ich diesen Punkt überhaupt erreiche.

Hier kommt dann die Tüftelei ins Spiel oder eher gesagt: Die moralischen Überlegungen. Es kann schließlich vorkommen, dass ich für einen bestimmten Punkt zuvor eine Entscheidung wählen muss, die ich sonst eher

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Nicht wundern: Harmony nutzt für verschiedene nicht-binäre Charaktere das Neo-Personalpronom „xier“. © 4P/Screenshot

 nicht getroffen hätte, wenn mir der Ausgang unbekannt geblieben wäre. Treffe ich sie dann trotzdem, weil sie zu dem führt, wovon ich ausgehe, dass es das Richtige ist? Oder bleibe ich meinen eigenen Prinzipien treu und schlage trotz der sich mir offenbarten Zukunft einen anderen Weg ein, bei dem der Ausgang ein ganz anderer ist? Und was in späteren Akten passiert, kann man selbst mit der besten Hellseher-Fähigkeit nicht erfassen.

Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: Entscheide ich mich für den Weg einer bestimmten Bestrebung, damit ein befreundeter Charakter etwas unternimmt, von dem ich weiß, dass mich dies zwar meinem Ziel, das Verschwinden von Ursula aufzuklären, näher bringt, aber gleichzeitig dafür sorgt, dass sich dieser Freund im Anschluss betrogen, verletzt und benutzt fühlt?

Gefühlvolles Auf und Ab

Natürlich funktionieren diese Überlegungen nur, weil es Don’t Nod mal wieder schafft, facettenreiche Charaktere zu zeichnen. Da wäre zum Beispiel Nora, die früher von Pollys Familie aufgenommen wurde und somit wie eine Art Schwester für Polly ist. Mittlerweile zur jungen Erwachsenen herangereift, ringt sie 

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Jade, hier rechts im Bild, stellt sich auf Atina dem Großkonzern entgegen – nicht ganz ohne Gefahr. © 4P/Screenshot

mit sich selbst, ob sie einen Job beim unsäglichen Konzern MK annehmen soll, um Geld zu verdienen und irgendwann studieren zu können, während sich ihre Gedanken zugleich sehr um das Verschwinden Ursulas drehen. Oder Jade, die ebenfalls noch junge Rebellin, die sich in Atina dem kapitalistischen Großkonzern entgegenstellt, von dem sie überzeugt ist, dass er die Menschheit vor Ort ausbeutet.

Natürlich zählt auch Polly selbst dazu: Nach und nach erfahren wir, warum sie zu ihrer Mutter Ursula schon immer ein schwieriges Verhältnis hatte und warum sie vor vielen Jahren Atina hinter sich ließ, um Medizin zu studieren. Das wird auch zum Problem mit Yana, einer Person, zu der Polly einst romantische Gefühle hegte, die selbst Jahre später auf beiden Seiten noch nicht gänzlich verschwunden sind. Mitterweile arbeitet Yana für MK, was für brisante Momente sorgt, in denen man die Erinnerungen an die einstige Liebe nutzen kann, um an Informationen zu gelangen, aber eventuell damit die Hoffnung auf eine zweite Chance gänzlich in den Sand setzt.

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Die Bestrebungen mischen sich immer wieder in unsere Angelegenheiten ein und versuchen uns, von ihren Ansichten zu überzeugen. © 4P/Screenshot

Wer nur kalt und emotional berechnend vorgeht, damit in der Mantik die präferierte Route zur Geltung kommt, muss damit rechnen, dass es auf emotionaler Ebene zu Fehleinschätzungen kommt, die einem in den Dialogen zuweilen direkt oder indirekt vorgehalten werden. Das kann, je nachdem wie sehr man sich den Charakteren verbunden fühlt, sehr schmerzhaft sein, da man anhand der Knotenpunkte erahnen kann, dass vieles hätte anders laufen können, wäre man nicht so blind gewesen – oder hätte man sich ausnahmsweise gegen die Mantik gestellt. In diesem Moment fühlt sich Harmony: The Fall of Reverie an, als würde es das Motto leben: Die Zukunft zu wissen kann mächtig, aber auch eine enorme Belastung sein.

In späteren Akten verliert Harmony jedoch ein gutes Stück von seiner Magie. Vor allem im letzten Akt bringen die Entwickler die zuvor von ihren starken Charakteren lebende Geschichte zu einem Finale, bei dem auf einmal Esoterik und übermächtige Kräfte eine viel wichtigere Rolle spielen und eine Botschaft vermitteln, die nicht so richtig zum Rest passen mag.

Hübsche Visual Novel mit Tempo-Fehler

Wo die Mantik als erzählerisches Konstrukt durchaus spannend ist, ergibt sich an anderer Stelle durch die Implementation ein schwieriger Erzählfluss, denn jeder Knotenpunkt besteht in der Regel nur aus kurzen Sequenzen. Selbst die längsten Abschnitte überschreiten kaum die Fünf-Minuten-Marke, ehe man direkt wieder im narrativen Übersichtsskelett landet. Besonders bei spannenden Stellen kann das ganz schön stören, wenn

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Schick anzuschauen ist Harmony auf jeden Fall, auch wenn sich einige Szenen wie für eine Visual Novel üblich oft wiederholen. © 4P/Screenshot

man nach nur wenigen Dialogen wieder rausgezogen wird, um eine Entscheidung zu treffen oder die nächste Szene zu wählen. Dadurch hemmt sich das Tempo selbst, was besonders auffällig ist, wenn man sowieso nur einen weiteren Knotenpunkt zur Auswahl hat: Hier wäre es angenehmer gewesen, wenn das Spiel diesen einfach automatisch wählen würde, anstatt eine manuelle Eingabe zu verlangen.

Bei einem Punkt gibt sich Don’t Nod derweil kaum eine Blöße: Die Präsentation ist dem Entwickler sehr gelungen, sowohl in Sachen Optik als auch Sound. Die schick, aber nur bedingt animierten Schauplätze, die von einem stillgelegten Schwimmbad, welches als Zuhause von Pollys Familie dient, bis hin zu einer dystopischen Mittelmeer-Stadt und den visuell faszinierenden Orten der einzelnen Bestrebungen, sind ein echter Hingucker. Natürlich leidet Harmony ein wenig unter dem üblichen Punkt einer Visual Novel, dass sich viele Hintergründe oft wiederholen, aber langweilig wurde es nie. Das mag auch an den guten englischen Sprechern liegen, die den jeweiligen Charakteren weiteres Leben einhauchen. Eine deutsche Sprachausgabe gibt es allerdings nicht, lediglich die Texte wurden vollständig übersetzt.

Kommentare

3 Kommentare

  1. Nachdem ich inzwischen Act 3 abgeschlossen habe, muss ich sagen, dass ich die relativ hohe Wertung nicht nachvollziehen kann. Das Spiel ist langweilig und damit maximal eine 5/10.
    Diese Augural Funktion ist nicht nur erzählerisch wertlos, sondern oft eher sinnlose Beschäftigung. Man klickt auf einen Node "gehe schlafen" und dann kommt kurz ein Bild und da steht "ich schlafe schnell ein" und man ist wieder in der Übersicht und muss zum nächsten Node navigieren, und das sehr oft ohne, dass es irgendwelche Abzweigungen gibt. Das ist einfach nur schlecht... Dazu die lahme Präsentation. Da stehen sich zwei Figuren gegenüber und man ließt, dass die sich umarmen. Das hätte man ja durchaus visualisieren können, stattdessen immer die selben Standbilder und die immer gleiche Musik. Und die Story? Berührt mich überhaupt nicht. Uninspiriert und nicht im Ansatz emotional.
    Gut, dass Don´t Nod etwas neues probiert haben, aber auch 10€ sind dafür noch zu viel. Kauft euch lieber ein gutes Buch...Harmony ist jedenfalls sehr weit weg von der Qualität eines Pentiment oder der Emotionalität anderer Don´t Nod Produktionen. Schade.

  2. Gestern hatte ich mich gefreut...mal wieder ein Spiel, das unter dem Radar lag.
    Don´t Nod haben mich bisher immer zumindest solide unterhalten, und da es das Teil für unter 10€ gab, hab ich direkt zugegriffen.
    Nachdem ich gestern noch Act 1 Chapter 2 abgeschlossen habe, muss ich allerdings sagen, dass die Erzählweise für mich einfach nicht funktioniert. Das die Story noch komplett belanglos ist, liegt sicherlich an dem frühen Zeitpunkt, aber wie kommen die auf die Idee, dass es gut ist, in die Zukunft schauen zu können? Anstatt den Weg auszuwählen, den ich richtig finde, muss ich das machen, was mich zum Ziel führt, das ich erreichen will. Damit sind die Entscheidungen bereits vorher festgelegt. Was für eine blödsinnige Erzählstruktur...

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